GABRIELE MÜNTER PREIS 2025
SHORTLIST
Die Jury des Gabriele Münter Preises hat am 14.01.2025 die Shortlist für die 8. Vergabe im Jahr 2025 bekanntgegeben. Aus den 1299 eingegangenen Bewerbungen wurden zunächst 40 Künstlerinnen für die Longlist und daraus schließlich sechs Künstlerinnen für die Shortlist ausgewählt: Esra Ersen, Parastou Forouhar, Else Gabriel, Ana Prvački, Annegret Soltau und Hoda Tawakol.
Das Museum Gunzenhauser der Kunstsammlungen Chemnitz widmet den sechs Künstlerinnen der Shortlist vom 27. September bis zum 16. November 2025 eine eigene Ausstellung. Im Jahr 2025, in dem Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt im Rampenlicht steht, wird diese Ausstellung zu einem zentralen Ereignis des Gabriele Münter Preises. Sie würdigt nicht nur die außergewöhnlichen Leistungen der Künstlerinnen, sondern bietet auch einen faszinierenden Einblick in die Bandbreite und Tiefe ihres künstlerischen Schaffens.
ESRA ERSEN (*1970)

ESRA ERSEN, Le due Rome, 2020, Kunst im öffentlichen Raum, 10 Travertintafeln mit literarischen Miniaturen, Villa Massimo, Rome, Foto: Alberto Novelli, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
„Ich spüre den vermeintlich kleinen Geschichten nach, die als unbedeutend gelten und hinter den großen Erzählungen verloren gehen, und dieser Kluft zwischen mündlicher Überlieferung und kollektiver Erinnerung, zwischen Mikro- und Makrogeschichte. Ich denke, man kommt nicht darum herum, die Asynchronizitäten anzuerkennen, die sich aus einer anderen Distanz ergeben. Bei Themen wie Geschichte, Identität und Migration, die uns alle auf die eine oder andere Weise betreffen, nähere ich mich, indem ich mich auf die komplexen Erfahrungen konzentriere und versuche, die Codes dieser Bereiche durch meine Fragestellungen sichtbarer und damit ansprechbar zu machen.“
Esra Ersen
Esra Ersen, 1970 in Ankara geboren, erforscht soziales Verhalten – die Art und Weise, wie Identitäten über nationale, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg geformt und verändert werden. Auf programmatische Weise analysiert Ersen, wie die Gesellschaft die verschiedenen Schichten, Spannungen und Widersprüche ihres eigenen Konstrukts verwaltet. Ihre Arbeit basiert auf einer empirischen und analytischen Untersuchung sozialer Situationen, die durch Kultur, Mythen, Rituale und ökonomische Faktoren strukturiert werden.
Esra Ersens Arbeiten ist ein konzeptioneller Ansatz gemein. Sie wendet eine Methodik der Mikroereignisse an, die dem Dokumentarfilm oder der anthropologischen Untersuchung entlehnt ist. Sie erforscht immer wieder die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft und zeigt auf, wie sich Identitäten bilden und verändern, wie die Wahrnehmung des Anderen und die festen Klischees unsere Selbstwahrnehmung beeinflussen. Ob sie mit Fotografie, Performance, Video oder Installation arbeitet, oft reagiert sie auf den spezifischen Ort ihrer Tätigkeit oder nutzt ihn, um ihre Untersuchungen zu formalisieren.

ESRA ERSEN, Diario, 2021, Ausstellungsansicht, 10 Fotografien, Archival Pigmentprint, entwickelt mit Unterstützung der Villa Massimo, Rom, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
PARASTOU FOROUHAR (*1962)
(PREISTRÄGERIN 2025)

PARASTOU FOROUHAR, aus der Serie „Das Grass ist Grün, der Himmel ist Blau und Sie ist Schwarz“, 2017, Fotografie, Digitalprint auf Alu-Dibond, 120 x 80 cm, © Parastou Forouhar
Parastou Forouhar, geboren 1962 in Teheran, ist eine iranisch-deutsche Künstlerin, deren Werk tief von persönlichen Erfahrungen mit Repression und Exil geprägt ist. In ihrer künstlerischen Praxis untersucht sie, wie sich diese Erlebnisse in einer von humanitären Krisen geprägten Welt reflektieren lassen. Ihr Schaffen umfasst Zeichnungen, Installationen, Fotoarbeiten, Objekte sowie fortlaufende aktivistische Archive und Aktionen. Ornamente und kalligrafische Elemente ihrer Muttersprache spielen eine zentrale Rolle: Sie wirken zunächst dekorativ, offenbaren jedoch bei näherem Hinsehen beklemmende Szenen von Kontrolle und Unterdrückung.
Forouhars Werke hinterfragen kulturelle Klischees und Sehgewohnheiten. Sie nutzt die ästhetische Anziehungskraft von Textilien, um tradierte Mechanismen der Entfremdung zu unterlaufen, ohne die Fremdheit aufzulösen. Ihre Kunst bleibt bewusst ambivalent und widerständig gegen jede Vereinnahmung. Ihre politisch motivierten Archive und Aktionen verstärken diesen Ansatz und machen ihre Arbeit zu einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Macht, Identität und kultureller Erinnerung.
Parastou Forouhar ist die Preisträgerin des Gabriele Münter Preises 2025. Weitere Informationen finden Sie hier.

PARASTOU FOROUHAR, Written Room, Rauminstallation, seit 1995, Acrylfarbe, Ausstellungsansicht „Lettres Ouvertes“, Institut des Cultures d’Islam, Paris, 2017, © Parastou Forouhar
ELSE GABRIEL (*1962)

ELSE GABRIEL, Kind als Pinsel (Kooperatorka), 2007, Foto-, Super-8-Filmperformance, 6:14 min, Kamera: Wiebke Loeper, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
„Ich bin ein halbes Jahr jünger als die innerdeutsche Mauer und in der DDR am Zonenrand aufgewachsen. Mir war zeitig klar, daß die DDR für mich nicht die artgerechte Haltung bedeutete. Ich studierte in Dresden, gründete mit Kommilitonen die Gruppe der Auto-Perforations-Artisten als Genrebezeichnung, um Begriffe wie Installation und Performance zu vermeiden, die es als Kunstform in der DDR offiziell nicht gab. Ich bin 1989 durch Heirat nach Westberlin ausgereist. Das Verschwinden des realsozialistischen Systems und der Umgang damit prägen meine Arbeit als Unterströmung.“
Else Gabriel
Else Gabriel, geboren 1962 in Halberstadt, setzt sich in ihren Performances, Installationen, Video- und Fotoinszenierungen sowie seit 2018 auch in ihrer Malerei mit Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitung auseinander. Angestoßen durch die eigene Biografie, entstehen ihre Arbeiten in intensiver Recherche und alltäglichem Dialog. Seit den 1980er Jahren prägt sie die zeitgenössische Kunstszene mit ihren innovativen und oft provokativen Arbeiten. Gabriel studierte an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und war Gründungsmitglied der legendären Performance-Gruppe Auto-Perforations-Artisten, die in der DDR für ihre avantgardistischen und kritischen Performances bekannt wurde.
Ihre Kunst zeichnet sich durch eine intensive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Themen aus. Mit einem experimentellen Ansatz erforscht sie die Beziehung zwischen Körper, Raum und Sprache und nutzt dabei eine Vielzahl von Materialien und Medien. Ihre Performances, Installationen und Gemälde sind oft durchzogen von einer ironischen und subversiven Perspektive, die den Betrachter dazu anregt, gängige Normen und Wertvorstellungen zu hinterfragen.

ELSE GABRIEL, Parzifal, 2022, Öl auf Leinwand, 190 x 160 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
ANA PRVAČKI (*1976)

ANA PRVAČKI, Earth is Top-Heavy, 2022, Wasserfarben, 36 × 51 cm, © Ana Prvački/n.b.k collection
„Ich verpflichte mich, meine Arbeit so rund wie die Erde und meine Leistungen so komprimiert wie Wasser zu gestalten.“
Ana Prvački
Ana Prvački, geboren 1976 in Pančevo, lässt sich in ihrer Konzeptkunst von der genauen Beobachtung der Natur und alltäglichen Ereignissen inspirieren. Ihr interdisziplinärer Ansatz umfasst Video, Augmented Reality, Skulptur, Malerei und immersive Performance, wobei sie so unterschiedliche Materialien wie Magnete und Honig verwendet. Mit einem besonderen Fokus auf das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Erfahrung schafft Prvački Situationen, die gesellschaftliche Normen des täglichen Lebens und Routinen in Frage stellen.
Bekannt wurde Prvački durch ihre unkonventionellen Performances, in denen sie oft das Publikum einbezieht, um ihr Umfeld für alltägliche Prozesse zu sensibilisieren. Ihre Arbeit reflektiert häufig die Schnittstellen zwischen Kunst, Ritual und Ökologie, wobei sie den Betrachter ermutigt, aufmerksamer und bewusster mit seiner Umwelt umzugehen. Mit ihrer interdisziplinären Herangehensweise fordert sie traditionelle Kunstkategorien heraus und lädt dazu ein, Kunst als integralen Bestandteil des Lebens zu betrachten.

ANA PRVAČKI, Apis Gropius, 2022, Gropius Bau, designed by NEEEU, © Ana Prvački/Gropius Bau
ANNEGRET SOLTAU (*1946)

ANNEGRET SOLTAU, Permanente Demonstration am 19.1.1976, 1976, Baryt-Abzüge, auf schwarzem Fotokarton montiert, 100 x 70 cm, Unikat, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
„Mein zentrales Anliegen ist, körperliche Prozesse in meine Bilder miteinzubeziehen, um Körper und Geist als gleichwertig zu verbinden.“
Annegret Soltau
Annegret Soltau, geboren 1946 in Lüneburg, ist für ihre radikalen und innovativen Arbeiten im Bereich der Fotografie, Collage, Radierung und Performance bekannt. Soltau nutzt ihre eigene Körperlichkeit als zentrales Motiv und Medium, um emotionale und gesellschaftliche Themen zu erforschen. Dabei hat sie sich mit ihrer eigenständigen, radikal feministischen Bildsprache über sechs Jahrzehnte hinweg als eine der prägenden Stimmen der Gegenwartskunst etabliert. Ihre künstlerische Arbeit konzentriert sich auf Themen wie Körperpolitik, Feminismus und die menschliche Identität, die sie mit innovativen Techniken wie Fotoübernähung oder -vernähung erforscht. Diese Arbeiten zeigen oft ihr Gesicht oder ihren Körper, die mit schwarzem Faden durchzogen sind, was eine eindringliche Spannung zwischen Verletzlichkeit und Kontrolle erzeugt. Die zerrissenen und wieder zusammengesetzten Bilder sind Metaphern für die Fragmentierung der Identität und die Komplexität der Selbstwahrnehmung.
Ihre Selbstporträts hinterfragen gesellschaftliche Rollenbilder, beleuchten innere Konflikte und komplexe emotionale Zustände und fordern damit traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit heraus. Auch das Altern und die Vergänglichkeit sind zentrale Motive in ihren Arbeiten.

ANNEGRET SOLTAU, MutterGlück mit Mutter und Sohn, 1980, Fotovernähung, 12 x 9 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
HODA TAWAKOL (*1968)

HODA TAWAKOL, Delicious Monster N°15, 2022, Textil, Watte, Nähgarn, 250 x 520 x 150 cm, Foto: Mareike Tocha, © Hoda Tawakol
„Der Zwischenraum ist mein Zuhause – zwischen London, wo ich geboren wurde, Ägypten, wo meine Wurzeln liegen, Frankreich, wo ich aufwuchs, und Deutschland, das seit über 30 Jahren meine Heimat ist. Auch der Körper ist ein Zwischenraum. Frei, ungezähmt und diszipliniert, verborgen, zur Schau gestellt, in den Fesseln der Geschlechternormen oder fließend, losgelöst und überwältigend.“
Hoda Tawakol
Die ägyptisch-französische Künstlerin Hoda Tawakol, geboren 1968 in London, beschreibt ihr Werk als eine tief verwurzelte Auseinandersetzung mit den Themen Identität, Weiblichkeit und kultureller Zugehörigkeit. In ihren Arbeiten, die wuchernde Pflanzen, verschnürte Torsi, gepolsterte Palmen und Kriegerinnen mit Rüstungen aus Haar umfassen, erschafft Tawakol neue Perspektiven auf das Feminine und dessen Widersprüche. Sie erklärt: „Ich dekonstruiere das Weibliche, um es gleichzeitig verschwinden zu lassen, zu bewahren und wieder in Besitz zu nehmen.“ Der Körper wird dabei zum Raum der Abwesenheit, Sehnsucht, des Schutzes und Widerstands, wodurch sie tiefgründige Reflexionen über Geschlecht, Identität und kulturelle Zugehörigkeit anregt.
Ein wiederkehrendes Motiv in Tawakols Arbeiten ist die Palme, die für sie ein intimes Zeichen ihrer Identität und der Sehnsucht nach einem Ort darstellt, an dem sie selbst nie lebte. Dieses Symbol nutzt sie, um kulturelle Identitäten und die Schnittstelle von Natur und Kultur zu erforschen. Tawakols Arbeiten zeichnen sich durch eine Kombination von Zärtlichkeit und Stärke aus und laden die Betrachter:innen ein, über die Beziehung zwischen Natur und Kultur sowie über Geschlechterrollen und Körperbilder nachzudenken.

HODA TAWAKOL, Nude N°30, 2020, Nylonstrümpfe, Reis, Kunstharz, Kunsthaar 32 x 25 x 17 cm, © Hoda Tawakol